Wolfram hämmerte mit der Faust gegen die Metallwand, bis das Grollen durch den Korridor hallte. "Versammlung. Jetzt. Alle." Seine Stimme ließ keinen Widerspruch zu.
Der Maschinenraum wurde zum Tribunal. Die Crew formte einen Kreis um die schwebende Rune, die in ihrer Containment-Einheit langsam rotierte. Jeder Atemzug war in der drückenden Stille hörbar.
"Von Anfang an", knurrte Wolfram. "Valeska. Beginne."
Valeskas Finger zuckten, als sie vortrat. "Es war... ein Ort." Ihre Stimme brach. "Ein Turm aus schwarzem Glas, der sich ins Unendliche drehte. Und eine Stimme... keine Worte, nur das Gefühl: 'Wir waren zuerst da.'" Sie rieb sich die Schläfen. "Es brannte sich ein wie ein Brandmal."
Götz war der Nächste. Der sonst so wortkarge Waffenmeister zitterte am ganzen Leib. "Schlachtschiffe. Tausende. Schlafend in einer Eiswolke. Und das Wissen... dass sie auf ein Signal warteten." Seine Augen wurden schmal. "Unser Signal."
Einer nach dem anderen offenbarten sie die Fragmente:
Wilhelm sah Flüsse aus flüssigem Metall, die Sternenkarten in ihre Oberfläche ätzten.
Der junge Kommunikationsoffizier Jannik weinte stumm, als er von "Sirenen aus Plasma" berichtete.
Selbst der stählerne Arvid erbleichte: "Ein Tor. Und etwas dahinter... das atmete."
Als der Kreis sich schloss, zeigte die Rune plötzlich sieben Zacken – genau wie die Anzahl der Berichterstatter. Wolfram, der bislang geschwiegen hatte, trat vor. Seine Hände waren blutig, wo er sie in die Handflächen gekrallt hatte.
"Meine Botschaft war anders." Seine Stimme war ein rostiges Messer. "Sie zeigten mir uns. Die Wotansklinge. Wie wir durchs All treiben – leer, verlassen. Und eine letzte Aufzeichnung: 'Sie kamen als Retter.'"
Ein Schock lief durch die Runde. Die Rune pulsierte jetzt im gleichen Rhythmus wie ihre beschleunigten Herzschläge – als würde sie mitsamt dem Schiff plötzlich atmen.
Wolframs Augen verloren ihren Fokus, als würde er durch die Schiffswände hindurch in eine andere Realität starren. Seine Stimme wurde monoton, jede Silbe präzise abgehackt wie ein Metronom:
"Die Aufzeichnung war in altem Nordisch eingraviert... aber mit Runen, die es nicht geben dürfte. Jede Linie pulsierte in einem anderen Jahrhundert." Seine Finger zogen unsichtbare Muster in die Luft. "Die Zeit dort ist nicht linear wie unsere. Sie fließt rückwärts, seitwärts, in Spiralen. Ich sah die Wotansklinge gleichzeitig als frisch vom Stapel gelaufen und als verrottetes Wrack – beides wahr, beides jetzt."
Die Crew rückte unwillkürlich näher zusammen. Die Rune in ihrer Mitte begann zu schweben, ihre Rotation verlangsamte sich zu einem bedrohlichen Taumeln.
"Und das Schiff...", Wolfram fuhr sich mit zitternder Hand über die Lippen, "es war voller Leichen in unseren Uniformen. Aber die Gesichter... die Gesichter waren anders. Verzerrt. Als wären wir durch einen Spiegel gegangen und falsch zurückgekehrt."
Valeska griff instinktiv nach ihrem Dolch. "Was soll das heißen – 'Sie kamen als Retter'? Retter vor was?"
Die Rune erwachte mit einem Mal zu grellem Leben. Ein holografisches Bild materialisierte sich – ihre eigene Flotte, wie sie friedlich um einen blauen Riesenstern kreiste. Doch dann: Risse im Raum. Schwarze Tentakel, die sich um die Schiffe schlangen. Und zuletzt... Silhouetten, die aus den Wracks stiegen. Silhouetten in vertrauter Uniform.
"Donnerwetter...", flüsterte Wilhelm. "Das sind ja wir."
Arvid stieß ein bitteres Lachen aus. "Nicht wir. Das, was aus uns wird, nachdem die Schatten uns 'gerettet' haben." Seine Hand umklammerte den Amulettbeutel an seinem Hals, die alten Runen darin schienen unter seinen Fingern zu pulsieren. "Sie zeigen uns unsere eigene Zukunft als Warnung. Oder als Angebot."
Da erklang eine neue Stimme aus dem Schatten des Maschinenraums - klar, jung und doch von einer seltsamen Autorität durchdrungen: "Oder ihr interpretiert die Zeichen falsch, alter Fuchs."
Siegfried Tyr von Drachau trat ins Licht, sein schulterlanges blondes Haar band er gerade zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammen. Die violetten VRIL-Tätowierungen an seinen Handgelenken leuchteten schwach im Halbdunkel. "Was, wenn die Botschaft wörtlich gemeint war? Dass wir - die Wotansklinge und ihre Crew - als Retter kommen werden? Nur... für wen?"
Wolframs Gesicht erhellte sich sichtlich. "Mein Sohn!" Er trat vor und umarmte den jungen Mann kurz, aber herzlich. "Dein Timing ist perfekt wie immer. Erzähl uns, was deine VRIL-Sinne erfassen."
Siegfried kniete sich vor die erloschene Rune nieder, ohne sie jedoch zu berühren. Seine Pupillen weiteten sich unnatürlich, als würde er in eine andere Frequenz des Lichts blicken. "Die Energieabdrücke... sie bilden ein Muster, das ich kenne." Seine Finger zogen unsichtbare Linien in die Luft. "Das ist kein Drohbild unserer Zukunft. Es ist eine... Einladung. Oder besser: Eine Projektion dessen, was sein könnte."
Er richtete sich auf, seine Augen kehrten langsam zur Normalität zurück. "Die Schatten fürchten sich. Vor etwas, das noch schlimmer ist als sie selbst. Und sie glauben - oder hoffen -, dass wir es aufhalten können."
Ein elektrisches Knistern lief durch den Raum, als die Rune für einen kurzen Moment wieder aufleuchtete - diesmal in einem warmen Goldton statt dem unheilvollen Blau. Siegfried lächelte leicht. "Seht ihr? Sie antworten auf meine Präsenz. Das ist kein feindliches Artefakt. Es ist ein Hilferuf."
Arvid schnaubte ungläubig, doch Wolfram legte seine schwere Hand auf die Schulter seines Sohnes. "Und was schlägst du vor, Junge?"
Siegfrieds Blick wurde fokussiert. "Wir müssen die anderen Schlüssel finden. Diese Rune ist nur ein Teil des Puzzles. Wenn wir alle zusammensetzen..." Er ließ den Satz bewusst in der Schwebe hängen, während seine VRIL-Male wieder zu pulsieren begannen.
Valeska trat mit einem verächtlichen Schnauben vor, ihre schmalen Augen funkelten im fahlen Licht der Containment-Einheit. "Einen Moment mal." Ihre Stimme schnitt durch die aufkeimende Hoffnung wie ein gezogenes Messer. "Vergesst nicht, was wir bisher erlebt haben."
"Das hier waren keine Einladungen", zischte sie. "Das waren Angriffe. Jeder von uns hat gespürt, wie ihre Botschaften in unseren Schädeln brannten beim Experiment - kein Hilferuf, sondern eine Invasion." Ihr Blick bohrte sich in Siegfried. "Du sprichst von ihrer Angst vor etwas Größerem. Gut. Aber ihre Lösung war es, uns zu entführen, zu verändern, uns gegen unseren Willen zu benutzen. Sie haben uns den Krieg erklärt!"
Karl senkte den Kopf. "Sie wussten keinen anderen Weg-"
"Und das macht es akzeptabel?" Valeskas Lachen war scharf wie Glassplitter. Sie trat direkt vor die Rune, trotz der Warnstrahlen, die über ihr Gesicht flackerten. "Diese Dinger haben Leute in der Helheim Drift in lebende Marionetten verwandelt, Karl als letzter Zeuge! Arvid hat gesehen, wie die Überlebenden um den Tod flehten!"
Siegfried wollte erwidern, doch Valeska hob eine schneidende Hand. "Nein. Hört mir zu. Vielleicht fürchten sie sich wirklich. Vielleicht brauchen sie Hilfe. Aber ihre Methoden machen sie zu Feinden." Sie drehte sich zu Wolfram. "Und wir sollten nicht vergessen, dass wir ihre letzte 'Hilfsbotschaft' in einem Raum voller Leichen in unseren Uniformen erhalten haben."
Ein bedrückendes Schweigen breitete sich aus. Die Rune pulsierte langsamer, als würde sie die Stimmung aufnehmen. Selbst Siegfrieds VRIL-Tätowierungen schienen an Intensität zu verlieren.
Dann knirschte Wolfram die Zähne zusammen. "Valeska hat recht." Er strich sich über das Kinn. "Aber Siegfried auch." Sein Blick wanderte zwischen den beiden hin und her. "Die Schatten sind Feinde - aber vielleicht nicht unsere Endgegner. Und das..." Er trat zur Rune, "macht sie potenziell zu Verbündeten. Unberechenbaren. Gefährlichen. Aber Verbündeten."
Valeska verschränkte die Arme, gab aber kein weiteres Argument von sich. Die Spannung im Raum war mit den Händen zu greifen, als die Rune plötzlich einen neuen Impuls aussandte - diesmal kein Bild, sondern ein einziges, in alle Köpfe gleichzeitig projiziertes Wort:
WAHL
"Scheißding hat Humor", murmelte Götz in die Stille hinein. Und seltsamerweise musste selbst Valeska ein kurzes, resigniertes Lächeln unterdrücken.
Siegfried richtete sich auf, seine VRIL-Tätowierungen pulsieren nun in einem beruhigenden, blaugoldenen Rhythmus. "Genau darum geht es - Wahl." Seine Stimme trug eine ungewohnte Eindringlichkeit. "Es gibt keine vorbestimmte Zukunft, keine unausweichliche Vorsehung. Jedes dieser Schreckensbilder ist nur eine Möglichkeit von vielen."
Er drehte sich zu Karl um, dessen Augen noch immer von der fremden Begegnung gezeichnet waren. "Karl, du bist der Einzige, der wirklich in ihrer Welt war. Nicht nur als Opfer, sondern als... Brücke." Siegfrieds Stimme wurde sanfter. "Was sagen dir deine Erinnerungen? Was ist der nächste Schritt, der uns nicht zu Opfern, sondern zu Handelnden macht?"
Alle Blicke richteten sich auf Karl, der langsam vortrat. Seine Bewegungen waren noch immer etwas unsicher, als müsse er sich an die Schwerkraft seiner eigenen Welt neu gewöhnen.
"Die Schatten..." Karl begann zögernd, dann fester werdend, "...sie denken nicht wie wir. Für sie sind Zeit und Möglichkeiten wie ein... ein Gewebe, das man falten und wieder entfalten kann." Seine Finger formten unsichtbare Muster in der Luft. "Das Bild der zerstörten Wotansklinge - es ist keine Prophezeiung. Es ist eine Warnung vor dem, was passieren könnte, wenn wir falsch handeln."
Er trat zur Containment-Einheit und betrachtete die nun ruhig daliegende Rune. "Siegfried hat recht. Der Schlüssel liegt in unserer Wahl. Und der nächste Schritt..." Karl hob den Kopf, und zum ersten Mal seit seiner Rückkehr war sein Blick wieder klar und entschlossen. "...ist, die anderen Schlüssel zu finden. Nicht um die Schatten zu besiegen, sondern um mit ihnen zu verhandeln - von einer Position der Stärke aus."
Valeska schnaubte. "Und wie sollen wir das anstellen? Wir haben kaum Kontrolle über diese eine Rune."
Karl lächelte schwach. "Weil wir bisher versucht haben, sie mit Technologie zu verstehen." Er deutete auf Siegfrieds leuchtende Tätowierungen. "Aber wir haben etwas, was sie respektieren - VRIL-Energie. Reine Bewusstseinskraft. Siegfried könnte..."
"Ein Bindeglied sein", vollendete Wolfram mit einem aufkeimenden Verständnis in den Augen. "Nicht als Opfer wie die anderen, sondern als gleichberechtigter Partner." Er strich sich durch den Bart. "Wir müssen die anderen Runen finden, bevor unsere Feinde - ob Schatten oder wer auch immer dahintersteckt - es tun."
Siegfried nickte und streckte seine Hand über der Rune aus. Die VRIL-Muster an seinen Armen begannen in komplexen Fraktalen zu leuchten. "Ich kann ihre Signatur jetzt spüren. Es gibt vier weitere... und die nächste..." Seine Augen weiteten sich. "Sie ist näher, als wir denken. An Bord der Stormraven."
Ein elektrischer Schock lief durch die Runde. Arvid erbleichte. "Das... das kann nicht sein. Wir haben das Wrack durchsucht!"
"Nein", korrigierte Siegfried leise. "Wir sind geflohen, als die Schatten kamen. Aber etwas ist dort zurückgeblieben. Etwas Wichtiges."
Wolfram traf seine Entscheidung mit militärischer Präzision. "Dann ändern wir den Kurs. Zur Stormraven. Valeska - du wirst die Sicherheitsprotokolle überwachen. Ich will keine weiteren 'Überraschungen'." Sein Blick traf den von Karl und Siegfried. "Und ihr beiden - bereitet euch vor. Wenn wir mit den Schatten verhandeln wollen, müssen wir ihre Sprache sprechen lernen."
Die Rune in der Containment-Einheit pulsierte einmal, kurz, als würde sie zustimmen - oder war es eine Warnung? Die Wahl, so schien es, lag wirklich bei ihnen.