Neofolk – Zwischen Acker und Abgrund

Es gibt Musikrichtungen, die nicht einfach nur erklingen, sondern atmen. Neofolk gehört dazu. Es ist kein Genre, das sich erklären lässt wie eine mathematische Formel. Es ist ein Gefühl, das irgendwo zwischen Erde und Geist schwebt. Eine Gitarre, eine Flöte, eine Stimme, die mehr erzählt, als sie singt. Und dann diese Stille dazwischen – die alles trägt.

Ich schreibe diesen Beitrag nicht als Außenstehender, sondern als jemand, der die Ränder dieser Szene seit Jahren kennt. Der ihre Schatten gesehen hat, und ihre Tiefe.


Die leise Rückkehr der alten Klänge

Neofolk war nie laut. Es war nie dafür gemacht, Stadien zu füllen oder Massen zu unterhalten. Diese Musik zieht sich zurück. Sie sucht Orte, an denen man noch das Knacken von Holz hört, den Wind über den Feldern.
Ursprünglich entstand sie aus den Trümmern des Post-Punk und Industrial – eine Bewegung, die ihre Aggression abgelegt und stattdessen einen Blick nach innen geworfen hat. Dort, wo man nicht mehr schreien muss, um gehört zu werden.

Aber das Entscheidende am Neofolk ist nicht seine Herkunft, sondern seine Haltung. Er ist eine Form von Erinnerung. Eine Sehnsucht nach etwas Echtem, Ursprünglichem. Nach einem Klang, der alt ist und doch nie alt wird.


Wenn Dunkelheit leise wird – die Verbindung zum Black Metal

Viele verstehen erst, wenn sie beides gehört haben: Neofolk und Black Metal sind zwei Seiten derselben Münze.
Black Metal war immer schon mehr als Musik. Es war eine Geisteshaltung – das Aufbegehren gegen das Normale, gegen das Bequeme. Eine Form von Widerstand.
Neofolk ist kein Widerspruch dazu, sondern eine Rückkehr. Wenn der Sturm sich legt, bleibt der Wind.

Ich habe über die Jahre viele Musiker gesehen, die diesen Weg gegangen sind. Manche kamen aus dem härtesten Black Metal-Untergrund, entdeckten dann plötzlich die Akustikgitarre. Und sie spielten sie nicht, weil es einfacher war – sondern, weil sie endlich verstanden hatten, dass Lautstärke keine Tiefe ersetzt.

Ein Beispiel, das mir besonders nah ist: Timo, den ich aus der Bielefelder Black-Metal-Szene kenne. Ein stiller Mensch, klug, mit einem Gespür für Atmosphäre. Mit seinem Projekt Saggitarius hat er genau diesen Übergang verkörpert – vom metallischen Donner zum akustischen Nachhall. Seine Musik war immer durchzogen von einer Art stiller Größe.
Wenn man sie hört, spürt man: Das ist kein Bruch, sondern eine Weiterentwicklung. Der gleiche Geist – nur mit anderen Mitteln.


Robert N. Taylor – der leise Pionier

Man kann über Neofolk nicht sprechen, ohne Robert N. Taylor zu erwähnen.
Lange bevor der Begriff überhaupt existierte, gründete er zusammen mit Nicholas Tesluk das Projekt Changes – Ende der Sechziger. Akustische Gitarren, Stimmen, Texte über Mythos, Geschichte, Schicksal. In einer Zeit, in der die Welt sich laut drehte, schrieb Taylor Lieder über Stille, über Herkunft, über die Erde unter den Füßen.

Ich durfte selbst eine kleine Zusammenarbeit mit ihm erleben. Für mich war das mehr als nur ein Projekt – es war eine Begegnung mit einer Zeit, in der Musik noch Handwerk war, nicht Algorithmus. Taylor hatte diese seltene Gabe, zwischen Wort und Welt keinen Abstand zu lassen. Seine Texte waren Bekenntnisse, keine Pose.
Und vielleicht ist genau das der Kern von Neofolk: eine Haltung. Keine Nostalgie, sondern ein bewusster Blick zurück, um zu verstehen, wer wir sind.


Bielefeld, Untergrund und die leisen Stimmen

Ich erinnere mich noch gut an die Nächte in kleinen Proberäumen, wo Black-Metal-Bands aus der Region zwischen Rauch und Neonlicht ihre Songs probten. Manchmal saßen wir danach einfach nur da – die Gitarren stumm, aber die Gedanken laut.
Daraus entstanden später Gespräche über Klang, über Mythos, über den Wunsch, nicht nur zu zerstören, sondern auch etwas zu bewahren.

In diesem Umfeld wuchs vieles heran, das später in Richtung Neofolk ging.
Nicht als Flucht aus der Härte, sondern als Fortsetzung.
Man tauschte die verzerrte Gitarre gegen Akustik, den Schrei gegen das Flüstern. Aber das Feuer blieb dasselbe.

Vielleicht ist das auch der Grund, warum mich dieses Genre nie losgelassen hat. Weil es ehrlich ist. Weil es kein Entertainment sucht, sondern Ausdruck.
Es ist der Klang, wenn man abends durch den Wald geht und der Boden unter einem nachgibt – weich, dunkel, lebendig.


Zwischen Mythos und Moderne

Neofolk ist auch eine Form von Gegenkultur.
Er verweigert die Geschwindigkeit, die Reizüberflutung, das ständige „Mehr“. Er erinnert daran, dass Musik nicht immer verfügbar, sondern manchmal nur erlebbar sein sollte.
Thematisch kreisen viele Neofolk-Stücke um europäische Mythen, Ahnen, Natur, Spiritualität. Doch die guten Künstler – die wirklich guten – benutzen diese Themen nicht als Dekoration, sondern als Sprache.
Sie erzählen davon, wie es ist, verloren zu gehen. Und wiedergefunden zu werden.

Vielleicht erklärt das, warum so viele ehemalige Black-Metal-Musiker hier ihre neue Heimat finden. Denn auch sie kennen diese Sehnsucht nach etwas Echtem – etwas, das über Musik hinausgeht.


Was bleibt

Neofolk ist kein Trend. Es ist eine Art, die Welt zu hören.
Ein Versuch, sich zu erinnern – an Klänge, an Geschichten, an eine Sprache, die fast vergessen war.
Und wenn man genau hinhört, spürt man, dass hinter der Melancholie eine leise Hoffnung steckt.

Ich glaube, dass diese Musik in einer Zeit wie unserer wichtiger ist denn je.
Weil sie nicht schreit.
Weil sie nicht verkaufen will.
Weil sie zuhört.


Nachklang

Wenn ich heute an die alten Aufnahmen von Changes denke, an die Nächte mit Timo, an die Gespräche über Musik, über Mythos, über das, was bleibt – dann begreife ich: Neofolk war nie nur ein Genre. Es war immer eine Haltung.

Vielleicht trifft es am besten ein Satz, den Robert Taylor einmal sinngemäß sagte:
„Unsere Zivilisation mag sterben – aber nicht unsere Lieder.“

Und genau deshalb wird Neofolk weiterleben.
Leise. Aber unaufhaltsam.

Auf nach Thule! - Haunebu - T-Shirt

Regulärer Preis
€24,99
Angebotspreis
€24,99
Regulärer Preis
Stückpreis
Translation missing: de.general.accessibility.unit_price_separator 
Jetzt einkaufen

Weitere Beiträge

Neofolk – Zwischen Acker und Abgrund

Neofolk – Zwischen Acker und Abgrund

Neofolk ist keine Flucht aus der Dunkelheit, sondern ihre Verwandlung in Klang. Zwischen Black Metal, akustischer Melancholie und alter Mythologie entsteht ein Genre, das weder laut noch leise ist – sondern wahr. Ein persönlicher Blick auf die Wurzeln des Neofolk, auf die leisen Pioniere wie Robert N. Taylor und auf Begegnungen aus der Bielefelder Szene, wo Black Metal und Folk zu einer neuen Form verschmelzen.

Wikingerkinder und ihre Welt – wie Kinder im Norden lebten

Wikingerkinder und ihre Welt – wie Kinder im Norden lebten

Ein Blick in die Kindheit der Wikinger: Wie sie lebten, spielten, lernten – zwischen Fjord und Feuerstelle. Kleidung aus Wolle, Geschichten von Göttern, Natur als Schule. Und heute? Unsere Wikinger-Shirts für Kinder tragen diesen Geist weiter – stark, frei, nordisch.

Odins Rabenflug Hugin und Munin

Kleine Götter, große Abenteuer – Odins Rabenflug

Zwei Raben, zwei Wege – einer denkt, der andere fühlt: In „Odins Rabenflug“ entdecken Hugin und Munin die Welt der Menschen. Eine nordische Sage für Kinder – über Wissen, Zuhören und die Geschichten, die den Himmel erreichen.