Karl Seidel saß in der abgedunkelten Krankenstation der Wotansklinge. Seine Augen waren in die Ferne gerichtet, als sähe er etwas, das sich jedem anderen Blick entzog. Die Maschinen neben seinem Bett summten leise, während Monitore seine stabilisierten Lebenszeichen überwachten. Doch das bedeutete nicht, dass es ihm gut ging. Seine Hände zitterten leicht, und seine Haut war blass, fast durchscheinend. Er wirkte, als hätte er einen Teil seiner selbst in der Helheim Drift zurückgelassen.
Wolfram betrat den Raum mit langsamen, bedachten Schritten. Er hatte lange genug gewartet. Karl war der einzige Überlebende der Helheim Drift und damit der einzige Mensch, der den Schatten aus nächster Nähe erlebt hatte. Wenn jemand mehr wusste, dann er.
„Wie geht es Ihnen, Seidel?“ Wolframs Stimme war ruhig, aber bestimmt.
Karl blinzelte, als würde er aus einem tiefen Schlaf erwachen. Dann drehte er den Kopf langsam zu seinem Kommandanten. „Kommt darauf an, ob Sie nach meinem Körper oder meinem Verstand fragen.“ Seine Stimme war heiser, als hätte er lange nicht gesprochen.
„Beides“, erwiderte Wolfram. Er nahm einen Stuhl und setzte sich ans Bett. „Ich weiß, dass Sie einiges durchgemacht haben. Aber ich brauche Antworten. Über den Schatten.“
Karl zuckte kaum merklich zusammen, als das Wort fiel. Er schloss kurz die Augen, holte tief Luft und begann dann mit brüchiger Stimme zu sprechen.
„Wir dachten, es wäre ein gewöhnlicher Einsatz. Eine Erkundung, nichts weiter. Die Drift war alt, verlassen. Aber wir haben etwas geweckt… oder es hat uns bemerkt. Erst war es nur ein Gefühl, wie eine Präsenz, die man nicht sehen kann, aber spürt. Dann fielen die Systeme aus. Unsere Scanner zeigten Dinge an, die unmöglich waren. Schatten, die sich bewegten, obwohl es keine Lichtquelle gab.“
Wolfram schwieg und ließ ihn erzählen. Er wusste, dass Karls Worte wichtig waren – vielleicht die wichtigsten, die er je gehört hatte.
„Dann begann das Flüstern. Zuerst dachten wir, es sei Interferenz, ein Restsignal von alten Kommunikationskanälen. Aber es wurde deutlicher. Worte, die wir nicht verstanden, doch wir wussten, dass sie eine Bedeutung hatten. Sie hallten in unseren Köpfen wider, ließen uns zweifeln, machten uns Angst.“ Karls Hände zitterten stärker, als er versuchte, sich an die Details zu erinnern.
„Was haben sie gesagt?“ fragte Wolfram.
Karl sah ihn mit leeren Augen an. „Der Weg ist geschlossen. Die Tore sind versiegelt. Doch Blut und Verrat können sie wieder öffnen.“
Ein Schauer lief Wolfram über den Rücken. Er kannte diese Worte. Sie hatten sie schon einmal gehört, als Karl auf der Brücke in Trance verfallen war. Doch nun, mit mehr Kontext, waren sie umso verstörender.
„Und dann?“ drängte Wolfram.
Karl schluckte schwer. „Dann kamen die Schatten. Ich kann nicht sagen, was sie waren – Geister, Kreaturen, Erinnerungen. Sie bewegten sich durch die Wände, durch die Decks. Sie berührten uns nicht, aber wir… veränderten uns. Die Leute begannen Dinge zu sehen, zu hören. Einige sprachen in Sprachen, die sie nicht kannten. Andere… verschwanden einfach. Ein Augenblick waren sie da, dann nur noch ein Schatten an der Wand. Sie schmolzen in die Dunkelheit, als hätten sie nie existiert.“
Ein eiskalter Kloß bildete sich in Wolframs Magen. Er war kein Mann, der leichtgläubig war, aber Karls Bericht klang nicht wie Wahn. Es klang nach etwas, das jenseits ihres Verständnisses lag.
Wolfram lehnte sich zurück und musterte Karl. „Eines verstehe ich nicht. Das Signal, das uns zur Drift geführt hat – es kam von euch, oder?“
Karl schüttelte langsam den Kopf. „Nein. Wir haben kein Signal gesendet. Wir konnten es nicht. Unsere Systeme waren tot, lange bevor die Schatten kamen.“
Wolfram runzelte die Stirn. „Dann wer? Wer hat uns dorthin gelockt?“
Karl zögerte, sein Blick wurde unsicher. „Ich weiß es nicht. Aber ich glaube… ich glaube, es war nicht jemand aus unserer Zeit.“
„Was meinst du damit?“, fragte Wolfram scharf.
Karl atmete tief ein, als würde er sich auf etwas Unerklärliches vorbereiten. „Ich weiß nicht, ob ich aus der Vergangenheit komme oder aus der Zukunft. Die Drift… sie hat die Zeit verzerrt. Ich habe Dinge gesehen, die noch nicht geschehen sind – oder vielleicht schon geschehen sind. Ich kann es nicht sagen. Aber das Signal… es kam von dort. Von einem Ort, der nicht hier ist.“
Wolfram starrte ihn an. „Du willst mir sagen, dass das Signal aus einer anderen Zeit kam?“
Karl nickte langsam. „Ja. Und ich glaube, es war eine Warnung. Eine Warnung vor dem, was noch kommen wird.“
Wolfram stand auf und trat ans Fenster der Krankenstation. Draußen dehnte sich das All in endloser Schwärze aus, doch er spürte, dass die wirkliche Dunkelheit viel näher war. „Unsere Feinde wissen mehr, als sie sollten“, sagte er schließlich. „Sie haben über den Schatten gesprochen, obwohl sie nicht in der Drift waren. Jemand füttert sie mit Informationen.“
Karl hob langsam den Blick. „Dann gibt es nur eine Möglichkeit. Jemand in Ihrem eigenen Lager spielt ein doppeltes Spiel.“
Wolfram nickte. Er hatte denselben Gedanken gehabt. Doch wer konnte es sein? Und wie tief reichte der Verrat?
Wolfram verließ die Krankenstation und ging zur Kommandobrücke. Freya stand am Holotisch, ihre Augen auf die taktischen Daten gerichtet. Sie blickte auf, als er eintrat.
„Und? Hat er etwas gesagt, das uns weiterbringt?“
Wolfram nickte. „Mehr, als mir lieb ist. Die Schatten sind älter, als wir dachten. Und sie sind nicht das Einzige, was wir fürchten müssen.“
Freya runzelte die Stirn. „Was meinst du?“
„Es gibt einen Verräter in unseren Reihen. Jemand, der unsere Feinde mit Informationen versorgt. Jemand, der weiß, was in der Drift geschehen ist.“
Freya schwieg einen Moment, dann sagte sie: „Dann müssen wir ihn finden. Bevor es zu spät ist.“
Wolfram nickte. „Ja. Aber wir müssen vorsichtig sein. Wenn wir den Falschen beschuldigen, spielen wir genau in ihre Hände.“
Als Wolfram die Brücke verließ, spürte er, wie sich die Schatten um ihn schlossen. Nicht die physischen Schatten der Drift, sondern die unsichtbaren, die in den Köpfen der Menschen lauerten. Er wusste, dass die Zeit knapp wurde. Und er wusste, dass der Verräter näher war, als er dachte.