Die Wotansklinge glitt durch die kalte Leere des Alls, bis das Wrack der Stormraven vor ihnen auftauchte – ein gezeichneter Koloss aus geborstenem Metall und erloschenen Triebwerken. Die Schäden erzählten ihre eigene Geschichte: Dies war kein normaler Kampf gewesen. Etwas hatte das Schiff von innen heraus zerfressen.
Valeska stand auf der Brücke, die schmalen Augen auf das Wrack gerichtet. "Die Dänen wussten von der Rune. Erik hat es zugegeben. Also wussten sie auch, was hier passieren würde." Ihre Stimme war scharf wie Stahl. "Bevor wir irgendetwas anfassen, sollten wir ihn noch einmal befragen. Mit der richtigen... Motivation."
Wolfram verschränkte die Arme. "Das Tribunal tagt in zwei Tagen. Danach gibt es keine Fragen mehr." Sein Ton ließ keinen Zweifel – der Prozess würde stattfinden, egal was sie auf der Stormraven fanden.
Ein dumpfes Schweigen breitete sich aus. Alle wussten, was das bedeutete: Eriks Urteil stand bereits fest. Der Tribunal war nur noch eine Formality. Eine Warnung an alle, die mit den Schatten paktierten.
Götz räusperte sich. "Dann arbeiten wir schnell. Ich werde ein Erkundungsteam zusammenstellen. Leute, die wissen, wie man mit... anomalen Objekten umgeht."
Siegfried trat vor, seine VRIL-Tätowierungen pulsierend. "Ich gehe mit. Wenn dort eine zweite Rune ist, werde ich sie finden."
Karl, immer noch bleich, aber entschlossen, nickte. "Und ich erkenne ihre Fallen."
Wolfram musterte sie einen Moment, dann nickte er. "Gut. Aber ihr habt vierundzwanzig Stunden. Nicht eine Minute länger."
Im Gefängnisblock
Erik saß auf seiner Pritsche, als Valeska eintrat. Sein Gesicht war noch immer gezeichnet von der Begegnung mit der Rune, aber seine Augen funkelten mit einer seltsamen Klarheit.
"Ah. Die schöne Henkerin," krächzte er. "Bist du gekommen, um mir meine Geständnisse zu entlocken? Oder nur, um zuzusehen, wie ich verzweifle?"
Valeska lächelte kalt. "Ich bin gekommen, um dir eine letzte Chance zu geben. Die Stormraven liegt vor uns. Erzähl mir, was wir dort finden werden, und ich verspreche dir eines: Dein Ende wird schnell sein."
Erik lachte – ein gebrochenes, hohles Geräusch. "Schnell? Das ist das Beste, was du anbieten kannst?"
"Das Einzige."
Er lehnte sich zurück, sein Blick wanderte zur Decke, als sähe er etwas in der Ferne. "Dann sucht nach dem Kapitänslogbuch. Es ist nicht für eure Augen gemacht... aber vielleicht für seine." Ein Nicken zu Siegfried. "Die Antworten, die ihr sucht, wird euch nicht gefallen."
Eriks Mund verzog sich zu einem schiefen Grinsen, als er Valeskas ungeduldigen Blick spürte. Seine Finger trommelten ein unregelmäßiges Muster gegen die Pritsche - Morsezeichen? Oder nur die nervöse Unruhe eines Verurteilten?
"Das Logbuch...", hauchte er, "hat Halvarsson selbst verschlossen. Mit seinem Blut und diesen..." Er machte eine vage Geste zu Siegfrieds VRIL-Tätowierungen. "Nicht für normale Sterbliche. Nicht mal für deinen stolzen Wolfram." Ein glucksendes Lachen. "Aber für den Jungen dort? Oder für Karl, den Schattenspürhund?" Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. "Vielleicht. Vielleicht auch nicht."
Valeskas Augen verengten sich. Arvid hatte wochenlang auf der Stormraven kommandiert - wenn es ein solches Logbuch gab, hätte er es erwähnen müssen. Doch der alte Kapitän hatte nur von "Schatten" und "Stimmen" gesprochen. Kein Wort von Blutssiegeln oder verborgenen Aufzeichnungen.
"Du lügst", stellte sie fest, doch ohne Überzeugung.
Erik lehnte sich zurück, das Lächeln eines Mannes, der weiß dass man ihm nicht glaubt - und es genießt. "Natürlich lüge ich. Vielleicht. Aber was kostet es dich, nachzuschauen?" Seine Augen glitzerten unnatürlich im Dämmerlicht. "Es sei denn... fürchtest du dich vor dem, was ihr finden werdet? Vor der Wahrheit über euer kleines 'Projekt Nordmark'?"
Ein eisiger Schauer lief Valeska den Rücken hinunter. Das war kein zufälliger Begriff - "Projekt Nordmark" stand in keinem offiziellen Logbuch. Wenn die Schatten davon wussten...
"Woher kennst du diesen Namen?", zischte sie.
Doch Erik schloss nur die Augen, sein Grinsen erstarrte zu einer Totenmaske. "Such das Logbuch, Valkyrie. Dann wirst du verstehen, warum wir alle nur Bauern in diesem Spiel sind."
Wolfram stand über den Holoprojektionen der Stormraven, als Valeska eintrat. Sein Blick war finster, die Schultern angespannt.
Valeska fixierte Erik mit eisigem Blick. "Du behauptest also, Arvid hat dieses Logbuch mit seinem Blut versiegelt? Derselbe Arvid, der seit Wochen mit uns kämpft? Der deine Männer als Verräter bezeichnet?"
Eriks Lächeln wurde schmaler. "Oh, er glaubt bestimmt selbst an seine Unschuld. Die Schatten sind... geschickt darin, Menschen für ihre Zwecke einzuspannen, ohne dass sie es merken." Seine Finger trommelten gegen die Pritsche. "Frag ihn doch, ob er sich an die Nächte erinnert, in denen er schweißgebadet aufwachte, mit Blut unter den Fingernägeln und keinem Gedanken daran, wie es dort hingekommen ist."
Draußen im Gang schien das Licht für einen Moment zu flackern. Valeska verließ die Zelle mit einem einzigen Gedanken: Entweder hatte Erik gerade einen wertvollen Hinweis gegeben - oder er hatte den Samen des Zweifels perfekt gepflanzt. Und sie wusste nicht, was gefährlicher war.
Das Flackern der Beleuchtung im Gefängnisgang schien ihr eine Warnung zu sein. Valeska blieb stehen, die Hand am Dolch, und atmete tief durch. Genug.
Sie drehte sich abrupt um und marschierte mit entschlossenen Schritten zur Brücke. Die Zeit für Halbwahrheiten und versteckte Andeutungen war vorbei. Was immer Erik spielte – sie würde es nicht länger mittragen.
Draußen auf der Brücke schritt Valeska direkt auf Arvid zu. Der alte Kapitän der Stormraven stand an den Schiffsdaten, sein Gesicht im bläulichen Licht der Displays gezeichnet von Monaten des Überlebenskampfes.
"Arvid", begann Valeska ohne Vorwarnung, "Erik behauptet, du hättest ein Logbuch mit deinem Blut versiegelt. Dass du es selbst nicht mehr weißt."
Arvids Hände erstarrten über den Kontrollen. Für einen winzigen Moment - fast zu kurz um wahrnehmbar - zuckte etwas in seinen Augen. Dann schüttelte er heftig den Kopf. "Blödsinn! Ich würde mich erinnern, wenn ich..."
Er brach ab, sein Blick wurde wild. "Nein. Das ist genau, was sie wollen! Dass ich zweifle! Dass wir uns alle gegenseitig misstrauen!"
Arvids Atem ging schneller, als würde er gegen eine unsichtbare Last ankämpfen. Seine Finger krallten sich in die Kante der Konsole, als versuchte er sich an der Realität festzuhalten.
"Denkt nach!", fuhr er sich fast an. "Was sollte ein Logbuch enthalten, das so verdammt wichtig ist? Die Stormraven war mein Schiff – wenn es Geheimnisse gab, dann kannten sie nur zwei Menschen: Ich... und Jark."
Ein eisiges Schweigen breitete sich aus.
"Jark?", fragte Valeska scharf.
Arvids Gesicht verfinsterte sich. "Mein Erster Offizier. Verschwunden, drei Tage bevor die Schatten uns fanden. Wir dachten, er sei bei einem Außeneinsatz verloren gegangen..." Seine Stimme wurde zu einem gefährlichen Flüstern. "...aber was, wenn er nicht einfach verschwunden ist? Was, wenn er weggeschafft wurde?"
Karl trat näher, seine Augen weit aufgerissen. "Weil er zu viel wusste?"
"Oder weil er etwas getan hat," warf Siegfried ein. Seine VRIL-Male pulsieren unruhig. "Etwas, das Arvid nicht bemerken sollte."
Arvid lehnte sich schwer gegen die Konsole, als würde die Erinnerung ihn körperlich niederdrücken. Seine Stimme wurde rau, als er die Ereignisse ausgrub, die er so lange verdrängt hatte.
"Es war eine Routineinspektion. Nichts Besonderes – ein defektes Relais an Außenhülle, Sektor 9-B." Seine Finger zogen unsichtbare Linien in die Luft, als skizzierte er die Schiffskonturen. "Jark bestand darauf, selbst zu gehen. Nahm drei Männer mit: Reiner, Olaf und den jungen Hjalti."
Ein bitteres Lächeln. "Er war immer so, der verdammte Idealist. ‚Warum Riskieren verteilen, wenn ich es allein tragen kann?‘"
Valeska bemerkte, wie sich Wolframs Schultern kaum merklich spannten – der Alte erkannte den Typus. Den Mann, der zuerst springt und später fragt.
"Sie waren zwanzig Minuten draußen", fuhr Arvid fort. "Dann... Stille." Seine Hand ballte sich. "Kein Notruf. Kein Alarmsignal. Nur ein letztes Fragment über die Funkverbindung."
Karl rückte näher. "Was habt ihr gehört?"
"Nichts Verständliches. Nur... Geräusche." Arvids Augen wurden weit, als sähe er es wieder vor sich. "Wie Metall, das sich verbiegt. Und etwas anderes – ein Summen, das kein Summen war. Als würde etwas... sprechen. Aber nicht in einer Sprache."
Siegfrieds VRIL-Tätowierungen flackerten auf. "Das klingt nach—"
"Nach nichts, was wir kennen", schnitt ihm Arvid scharf ab. "Wir suchten. Verdammt noch mal, wie wir suchten! Scans, Drohnen, alles." Seine Stimme brach. "Aber da war nichts. Keine Wärmezeichen. Keine Lebenszeichen. Nur..."
"Nur?", drängte Valeska.
"Ein falsches Echo", murmelte Arvid. "Als ob der Raum selbst uns etwas vorspielte. Die Sensoren zeigten sie an einem Ort – aber wenn wir hinkamen, war die Signatur plötzlich woanders."
Wolfram wechselte einen Blick mit Götz. Beide kannten das Gefühl – dieses hilflose Wüten gegen Regeln, die man nicht verstand.
"Und nach 48 Stunden?", fragte Karl leise.
Arvid atmete tief durch. "Protokoll verlangt die Aufgabe der Suche. Die Stormraven war allein in feindlichem Gebiet. Wir..." Er brach ab, aber sie alle wussten, was er nicht aussprach: Wir hatten Angst.
"Jark wäre nie geflohen", fügte Arvid plötzlich hinzu. Sein Blick war nadelspitz. "Wenn er nicht antwortete, dann deshalb, weil er nicht konnte. Und wenn die Schatten ihn ‚weggeschafft‘ haben..."
"...dann könnte er der Schlüssel sein", vollendete Siegfried.
Die Rune auf dem Tisch pulsierte schwach, als würde sie zustimmen – oder warnten.
Wolfram richtete sich auf. "Dann ändert das unsere Prioritäten. Wir suchen nicht nur ein Logbuch." Seine Augen blitzten. "Wir suchen einen vermissten Offizier. Und diesmal... geben wir nicht nach 48 Stunden auf."
Götz grinste. Es war genau das, was sie alle hören wollten.
Doch in der Schwebe hing eine unausgesprochene Frage:
Was, wenn Jark nicht gefunden werden wollte?
Oder schlimmer – was, wenn er längst etwas anderes geworden war?